FEMmeetsDR - Mehrskalenmodellierung des mehrachsigen Fräsprozesses durch Verknüpfung der Finiten Elemente Simulation mit der geometrischen Durchdringungsrechnung
In vielen Schlüsselindustrien Deutschlands, z. B. dem Werkzeug- und Formenbau, ist die Zerspanung das vor-herrschende Fertigungsverfahren für die Bearbeitung von anspruchsvollen und komplexen Werkstücken. Bei der Prozessplanung dieser Werkstücke werden in zunehmenden Maße Computer-Aided Manufacturing (CAM) Systeme eingesetzt, welche die komplexe Prozessplanung einer mehrachsigen Bearbeitung erst ermöglicht. Trotz des Einsatzes computergestützter Methoden kommt es in der späteren Fertigung oftmals zu Fertigungsfehlern, die entweder manuelles Nacharbeiten erfordern oder zu unerwünschtem Bauteilausschuss führen. Ein Beispiel hierfür ist die Schlichtfräsbearbeitung von dünnwandigen Konturen oder von Freiformflächen, welche mittels mehrachsiger Bearbeitung und komplexer Eingriffsbedingungen gefertigt werden. Insbesondere bei der Schlichtbearbeitung wird die Werkzeugabdrängung maßgeblich durch die auftretenden Prozesskräfte bestimmt und können im schlimmsten Fall dazu führen, dass die geforderten Toleranzen nicht eingehalten werden. Vor dem Hintergrund hoher Produkt- und Prozesskosten stellt dies für fertigende Unternehmen eine hohe wirtschaftliche Belastung dar. Diese Belastung wird für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) auch durch einen immer steigenden Kostendruck bei gleichzeitiger Reduzierung der Losgröße im internationalen Wettbewerb verstärkt.
Innerhalb der CAM-Systeme wird die Bahnplanung komplexer Werkstückgeometrien durch eine Materialabtragssimulation, Kollisionskontrolle und adaptive Bahnberechnung unterstützt. Diese Hilfsmittel basieren ausschließlich auf einer geometrischen Betrachtung des Zerspanprozesses. Eine systematische und explizite Berücksichtigung von physikalischen Effekten, z. B. das Auftreten von Prozesskräften, findet im Rahmen der CAM-Programmierung nicht statt. Aus diesem Grund erfolgt in der betrieblichen Praxis die Prozessauslegung von spanenden Fertigungsverfahren meist experimentell und iterativ mittels eines „Trial-and-Error“-Prinzips. Diese Vorgehensweise erfordert einen hohen zeitlichen Aufwand und damit einhergehend hohe monetäre Kosten. Ein möglicher Lösungsansatz ist das Konzept des „Virtual Manufacturing System“, bei dem eine Integration und Kopplung von Prozesssimulationen im CAM-System angestrebt wird. Durch eine der experimentellen Prozessauslegung vorgelagerten Prozessentwicklung im CAM-System soll eine Reduzierung der „Try-Out“-Aufwände an der Maschine erreicht werden. Vereinzelt gibt es schon kommerziell verfügbare Lösungen, z. B. Vericut von CGTech oder NPRO von Malinc, die eine Schnittstelle zu in der Industrie etablierten CAM-Systemen bereitstellen. Die Simulationen basieren auf der geometrischen Durchdringungsrechnung (DR) zwischen Fräswerkzeug und Werkstück. Die Ergebnisse der Durchdringung werden mit empirischen Modellen, wie dem Kraftmodell nach Kienzle oder Altintas, gekoppelt. Hier-durch wird eine zeiteffiziente Simulation der Zerspankraft, bzw. der Zerspankraftkomponenten, entlang der Werkzeugbahn ermöglicht. Diese Vorgehensweise kann auch entlang komplexer Werkzeugbahnen, wie z. B. beim simultanen mehrachsigen Fräsen, angewendet werden. Das Prinzip der DR lässt sich auf unterschiedliche Zerspanprozesse, wie das Drehen und Bohren, übertragen. Nachteilig an diesem Vorgehen ist jedoch, dass ausschließlich eine geometrische Betrachtung des Zerspanprozesses stattfindet. Physikalische Zusammenhänge des Prozesses oder das Verhalten des Werkstoffs werden nicht explizit berücksichtigt. Diese Informationen werden – wenn überhaupt – in den gekoppelten empirischen Modellen durch entsprechende Kalibrierungsfaktoren implizit berücksichtigt. Diese müssen allerdings im Vorfeld aufwendig in Grundlagenuntersuchungen bestimmt oder aus Tabellenwerken sowie Forschungsarbeiten entnommen werden. Eine Übertragbarkeit der Kalibrierungsfaktoren ist allerdings nicht immer möglich und kann die Güte der Modelle auf einen kleinen Gültigkeitsbereich beschränken.
Demgegenüber ermöglicht die Finite Elemente Methode (FEM) eine genauere Vorhersage von Prozesskräften und Prozesszustandsgrößen, wie Temperaturen oder Eigenspannungen, da die Zusammenhänge des thermomechanischen Belastungskollektivs berücksichtigt werden. Der Simulation liegen hierbei verschiedene Modelle zugrunde, z.B. Material- und Reibmodelle, die das Verhalten des Werkstoffs und/oder Schneidstoffs beschreiben. FE-Simulationen des Zerspanprozesses, bei dem die 3D-Werkzeug- und Werkstückgeometrie berücksichtigt wird, finden bisher jedoch keine Anwendung. Ein Großteil der zerspantechnischen Untersuchungen auf Basis der FEM untersuchen den Zerspanprozess mittels des orthogonalen Schnitts. Der orthogonale Schnitt bietet im Vergleich zu 3D-Prozesssimulationen den Vorteil, dass die Anzahl der durch das Gitter gebildeten Knoten reduziert wird und dadurch der Rechenaufwand verringert, werden kann. Die hohen Rechenzeiten sind ein wesentlicher Nachteil der FEM. Die Rechendauer von 3D-Simulationen von nur wenigen Schneideneingriffen kann mehrere Tage bis Wochen betragen. Daher hat die 3D-FE-Prozesssimula-tion bisher keine Anwendung bei der simulationsgestützten Zerspanprozessauslegung in der Industrie und nur wenig Anwendung im Forschungsbereich gefunden. Um die Vorhersagegenauigkeit der Prozesskräfte bei der computergestützten Prozessauslegung von mehrachsigen Fräsprozessen komplexer Werkstückgeometrien zu verbessern, bietet sich die Kopplung von DR und FE-Simulationen an. Durch die Kopplung kann eine zeiteffiziente Simulation auf Basis von physikalischen Gesetzmäßigkeiten erreicht werden, durch die bei der Prozessauslegung von Fräsprozessen schon frühzeitig kritische Bearbeitungsstellen identifiziert werden können. Eine solche Simulationsmöglichkeit kann bei der Fertigungsauslegung von Strukturbauteilen, Triebwerkskomponenten oder im Werkzeugbau zur Reduzierung der Ausschussteile oder Nachbearbeitung genutzt werden und so einen wirtschaftlichen Vorteil bieten. Die spezifischen Vor- und Nachteile der Simulationsmethoden sind in Abbildung 1 zusammengefasst.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Prozessauslegung von Zerspanprozessen in der betrieblichen Praxis meist experimentell, iterativ und erfahrungsbasiert mittels des „Trial-and-Error“-Prinzips erfolgt. Aktuelle Prozesssimulationen, die eine Schnittstelle zu CAM-Systemen aufweisen, basieren auf der DR mit integrierten empirischen Kraftmodellen. Die verwendeten Kraftmodelle weisen einen eingeschränkten Gültigkeitsbereich auf, so dass eine Übertragbarkeit nicht unmittelbar gegeben ist. Eine Möglichkeit zur Steigerung der Vorhersagegenauigkeit bei der computergestützten Prozessauslegung stellt die Kopplung von DR und FEM dar, wodurch sich eine zeiteffiziente Simulation des Zerspanprozesses auf Basis von physikalischen Gesetzmäßigkeiten realisieren lässt. Durch die Kopplung der FEM mit der DR kann das im Realprozess simultane geometrische und physikalische Phänomen in zwei Teilprobleme in zulässiger Weise getrennt werden, wodurch eine Simulation der physikalischen Bedingungen auf der Makroskala für variable Eingriffsbedingungen erst ermöglicht wird. Durch diesen Ansatz ist es auch denkbar zukünftig Verschleiß, den Einfluss von Kühlschmierstoff (KSS) und auch die Beeinflussungen der Oberflächenrandzone durch den Bearbeitungsprozess zu berücksichtigen. Beim ausschließlichen Einsatz der FEM wäre dies allenfalls im 2D effizient realisier-bar. Da die DR nur unverformte geometrische Größen berechnet (Spanungsgrößen statt Spangrößen), kann diese Simulationsmethode auf alle Zerspanprozesse angewendet werden. Bei entsprechenden Modellen zur Beschreibung der Spanungsgrößen in Abhängigkeit von den Prozessparametern und Eingriffsgrößen kann die DR sogar bei komplexen mehrachsigen Fräsbearbeitungen genutzt werden.
Aus den vorangegangenen Ausführungen wird deutlich, dass die Auslegung von spanenden Fertigungsverfahren im Stand der Technik größtenteils experimentell und somit erfahrungsbasiert erfolgt. Die Modellierung von Zerspanprozessen, besonders auf Basis der FEM, ist bereits Gegenstand vieler wissenschaftlicher Untersuchungen. Ein weitreichender Transfer der Forschungsergebnisse in die industrielle Praxis, insbesondere bei KMU, ist erstrebenswert. Die mangelnde Marktdurchdringung der FEM in der fertigenden Industrie ist auf die wesentlichen Nachteile der Modellierungsmethode zurückzuführen, insbesondere auf die sehr ho-hen Rechenzeiten, die eine Anwendung auf der Bauteildimension ausschließen. Jedoch bietet der Einsatz der FEM die Möglichkeit das im Prozess auftretenden thermomechanische Lastkollektiv explizit zu berücksichtigen und kann so dazu beitragen das Prozessverständnis zu verbessern.
Um den Transfer der wissensbasierten, systematischen Prozessauslegung in die industrielle Anwendung zu ermöglichen, wurde in diesem Forschungsvorhaben ein Ansatz verfolgt, bei dem die der digitalen Prozessauslegung vorgelagerten FE-Simulationen bzw. deren Ergebnisse in der DR nutzbar gemacht wurden. Hier-durch sollen die jeweiligen spezifischen Nachteile der beiden Simulationsmethoden überwunden und die Vorteile nutzbar gemacht werden. Von entscheidender Bedeutung ist, dass der Endanwender möglichst keinen Mehraufwand bei der Verwendung des Systems hat. Um dies zu erreichen wird die gekoppelte Simulation in ein CAM-System integriert werden, sodass aus dem CAM-System heraus Simulationen gestartet wer-den können. Die Ergebnisse der Simulation sollen ebenfalls direkt im CAM-System visualisiert werden, so dass der CAM-Programmierer unmittelbar mit einer Optimierung der CAM-Programmierung, bspw. Durch Anpassung der Strategie oder der Schnittparameter, beginnen kann. Bislang besteht eine Wissenslücke hin-sichtlich des Transfers der durch die FEM gewonnenen Ergebnisse auf die Anwendungsebene innerhalb eines CAM-Systems. Dieser Transfer soll mittels des Einsatzes der DR erfolgen und validiert werden. Auf Grundlage der aufgeführten Vorarbeiten wurde folgende Arbeitshypothese formuliert:
Durch die Kopplung der geometrischen Durchdringungsrechnung und der Finiten Elemente Methode bei der Modellierung des fünfachsigen Fräsprozesses können Zerspanprozesse wirtschaftlich digital ausgelegt wer-den und so die Bauteilqualität im Kontext des Zielkonflikts zwischen Fertigungskosten und -qualität verbessert werden.
Für das Forschungsvorhaben ergibt sich damit folgenden Zielsetzung:
Kopplung der geometrischen Durchdringungsrechnung und der Finiten Elemente Methode zur wissensbasier-ten Prozessauslegung von fünfachsigen-Fräsprozessen.
Zur Verifizierung oder Falsifizierung der Arbeitshypothese wurden zunächst vier Forschungsfragen definiert:
- Welche Prozessparameter müssen in einer 2D-FE-Simulation variiert werden, um eine Datenbasis zur Beschreibung der Zerspankraftkomponten für einen möglichst breiten Prozessparameterraum bei der fünfachsigen Fräsbearbeitung zu realisieren?
- Wie kann die FE-Datenbasis effizient an die DR angebunden werden und eine ausreichende Modell-güte sichergestellt werden?
- Kann durch eine Kopplung von FEM und DR eine Verbesserung der Kraftberechnung bei der Fräsbe-arbeitung im Vergleich zu empirischen Ansätzen erzielt werden?
- Kann ein Zusammenhang zwischen den simulierten Kräften und der Bauteilqualität eines anwen-dungsnahen Werkstücks in Bezug auf Form- und Maßgenauigkeit hergestellt werden?
Nach Gesprächen mit den CAD/CAM-Anbietern des projektbegleitenden Ausschusses und deren Frage nach einer reibungslosen Integration in bestehende CAD/CAM-Systemlandschaften wurden die Fragen dann im Nachgang um noch eine fünfte Frage ergänzt:
5. Wie lässt sich die gekoppelte Simulation in ein CAM-System integrieren, so dass CAM-intern genutzte Werkzeugdaten und -modelle direkt verwendet werden
können und dadurch der Mehraufwand für den Endanwender minimiert wird?
Förderhinweis
Das IGF-Vorhaben FEMmeetsDR (22305N) der Forschungsvereinigung Programmiersprachen für Fertigungseinrichtungen (FVP) e.V. wurde über die AiF im Rahmen des Programms zur Förderung der Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert. Der Förderzeitraum begann im Juli 2022 und endete im Dezember 2024.